Hildegard von Bingen – mehr als eine Dinkel-Nonne
Es ist mehr Glück als Verstand: Nur wenige Stunden nach dem tagelangen europaweiten Katastrophen-Starkregen wagt die Sonne wieder ihr erstes Gastspiel und können meine Kooperationspartnerin Sieglinde Schuster-Hiebl und ich Teile unseres Arrangements draußen im Garten aufbauen.
Hildegard von Bingen beschäftigt uns wieder, und wie unsere Veranstaltung im Mai ist auch dieses Event, für das wir nicht zufällig ihren Namenstag – den 17. September – ausgewählt haben, wieder voll ausgelastet.
Zum Beginn der Veranstaltung in der ehemaligen Offizin der Hubertus-Apotheke Valentin Mayring fasse ich meinen Blog diesmal kurz: Denn ich wiederhole das übliche Schlaglicht auf die Museumsgeschichte vom Urgroßvater, der 1915 für den sagenhaften Preis von 50 Pfennig pro Quadratmeter den Wald rund um die heutige Neubiberger Pfarrkirche Maria Rosenkranzkönigin kaufte, bis zur Gründung unseres Apothekariums vor 2 Jahren; auch die Einleitung zu Hildegard, ihre Vita, ihr Lebenswerk – die 9-bändige Physica zu den 3 Reichen der Natur (Tiere, Pflanzen, Steine) – und die Wiederentdeckung ihrer Rezepturen durch die so genannte Hildegard-Medizin in den 1970er Jahren durch die Ärzte Dr. Gottfried Hertzka und Dr. Wighard Strehlow hatten wir 1:1 schon so in unserer Frühjahrs-Veranstaltung im Mai (dort ausführlich nachzulesen).
Landläufig kennen manche Hildegard-Fans die Universalgelehrte hautpsächlich als “Dinkel-Nonne”. Sieglinde erläutert uns anhand von Anschauungsprodukten einige Verwendungen – Mehl, Kaffee, Gebäck -, und doch gilt es kräftig zu relativieren: Auch wenn sie den Dinkel für “die beste Körnerfrucht” hielt, widmet sie ihr in der Physica gerade mal 5 Zeilen:
Cap. 5. S p e 1 t a. (Triticum Spelta.) Die Spelze ist warm; sie ist die beste Körnerfrucht, fett
und kräftig, angenehmer als alle anderen, sie bildet echtes Fleisch und echtes Blut und macht
den Geist des Menschen heiter und froh. Sie ist bekömmlich in jeglicher Zubereitung. Ist Je
mand so schwach, dass er nichts essen kann vor Schwäche, so soll man ihm einen Trank ge
ben aus gekochter Spelze mit Eigelb.
Zum Weizen und zum Hafer sagt Hildgard mehr. Und an einem schönen Herbsttag interessieren uns auch vor allem die reifen Garten-Früchte: Wir haben sie auf unserer Terrasse aufgebaut, und Sieglinde zeigt uns anhand einer breiten Palette von Anschauungsprodukten (einschlägige Anbieter nach Hertzka/Strehlow) – einige lang vergessene Verwendungsmöglichkeiten in der Hildegard-Medizin auf, die sich – eng angelehnt an die Physica – doch deutlich von offizinellen Rezepturen der modernen Phytotherapie unterscheiden. Einige Beispiele:
- Den Fenchel – inzwischen fast 2 m groß geworden und fast reife Samen aus den Dolden auswerfend – thematisieren wir erneut mit Teedrogen, Kapseln und Pulvern – auch Mischungen mit Galgant und Bertram als Kräftigungsmittel. Ein bisschen Botanik muss sein in Erläuterung der Unterschiede zwischen Bitter-, Süß- und Gemüsefenchel. Bei uns wächst die bittere Variante, deren Same viel von dem Bitterstoff Fenchon enthält. Die noch relativ neue Erkenntnis, dass Estragol – ein weiterer Bestandteil des ätherischen Öls des Bitterfenchels – Krebs auslösen und die DNA von Zellen verändern kann, hat dazu geführt, dass das HMPC seine Monographie zum Bitterfenchelöl zurückgezogen hat und dieses nicht mehr als traditionelles Arzneimittel im Sinne des § 39a AMG gelten lässt. Das hat Dr. Hertzka in den 1970er Jahren nicht wissen können, als er empfahl, täglich eine Handvoll Bitterfenchelsamen zu kauen. Wir wagen es letztendlich nicht zu beurteilen, wieviel “Gefahr” nun vom Estragol wirklich ausgeht – auf der sicheren Seite sind wir, wenn wir mit den Fenchelprodukten – wie überhaupt mit allen Pflanzenwirkstoffen – moderat dosiert umgehen und es nicht übertreiben.
- So sehr Hildegard Heilweine alle Art schätzte – mit Weintrauben konnte sie nicht viel anfangen. Vielmehr hätte sie an unserem Rebstock eher das Holz interessiert, denn daraus empfahl sie ölige Rebtropfen gegen Ohrenschmerzen und Rebstockwasser-Augentropfen.
- Unsere Schlehen tragen – im Gegensatz zum Vorjahr – dieses Jahr reichlich. In der modernen Phytotherapie sind nur die Blüten offizinell, auch wenn uns die Früchte zu Likör verarbeitet gut schmecken. Hildegard hingegen empfahl einen Trank aus der Asche von frischen oder alten Schlehen mit Gewürznelken, Zimt und gekochtem Honig mit Wein gegen Gicht bis zur Sinnesverwirrung. Mit der Gicht meint sie definitiv mehr als die heute so definierte Krankheit (von Harnsäure hat sie ja noch nichts wissen können), sondern wahrscheinlich unspezifisch Muskel- und Gelenkschmerzen aller Art und Ursache.
- Bei der Pflaume – botanisch mit der Schlehe verwandt (Prunus) – interessierte Hildegard die Frucht nicht, sondern die Rinde und die Blätter. Diese empfahl sie zu einer Lauge verarbeitet als Haarwuchs förderndes Mittel (wie alle Hildegardmedizin-Produkte außer Galgantpulver rechtlich gesehen keine Arznei, sondern Kosmetikum / Lebensmittel).
- Bei der Quitte hingegen – ein Zweig im Strauß trägt noch eine Frucht – sind Holz und Blätter … zum Gebrauche des Menschen untauglich; die Frucht ist warm und ist, vollständig reif, Gesunden und Kranken besonders gekocht und gebraten, zu empfehlen, und zwar wiederum gegen die allgegenwärtige Gicht. Wir haben Quittenkekse im Sortiment.
- Schließlich verhilft sie dem Kornelkirschbaum – sie nennt ihn Erlitzbaum, fast jedem nur als Zierstrauch bekannt – zur Ehre: Gegen Gicht soll ein Bad aus Rinde, Holz und Blättern gemacht werden, und zwar im Sommer, wenn der Baum grünt, dasselbe ist dann besonders Kindern und jungen Leuten zu empfehlen. Die Früchte reinigen sowohl den gesunden, wie kranken Magen, sind überhaupt der Gesundheit zuträglich. Auf unserem Präsentationstisch steht ein Glas Marmelade.
- Die Früchte des Esskastanienbaums (Hildegard nennt ihn Kestenbaum) empfiehlt sie bei Kopfschmerzen, Leiden der Leber und der Milz …. theils roh, theils geschmort oder gebraten als wohlthätiges Mittel …. Gegen Magenschwäche sollen die Früchte tüchtig gekocht und zerquetscht, dann mit etwas feinem Mehl, Süssholz und Polypodium- Pulver zu einem Mus angerührt und gegeben werden.
- Ein besonderes botanisches Rätsel gibt das “Pelargonienpulver” auf, das Hildegard gegen Erkältungen empfiehlt. Moderne phytotherapeutische Medizin gegen Atemwegsinfektionen und banale Erkältungssymptome wie verstopfte oder laufende Nase, Halsschmerzen und Husten (Tropfen, Trockenextrakte) wird aus der Wurzel der Kapland-Pelargonie (Pelargonium sidoides) hergestellt. Auf unserer Terrasse blüht gerade ein ansehnliches Exemplar mit feinen dunkellila Blüten. Das aber kann Hildegard nicht gemeint haben, denn diese Pflanze wurde erst 1824 identifiziert und beschrieben. Das, was Hildegard “Kranichschnabel” genannt hat, wurde im 19. Jahrhundert als “Englische Geranie” (Geranium anglicum) gedeutet. Diese aber ist botanisch nicht nachvollziehbar. Die als Balkonpflanzen überall gegenwärtigen so genannten “Geranien”, die in Wirklichkeit – botanisch gesehen – Pelargonien sind, brachte erst der englische Botaniker John Tradescant im 17. Jahrhundert aus Südafrika nach Europa und fallen als Hildegardpflanzen aus. Was aber war denn nun der Kranichschnabel (an anderer Stelle “Reiherschnabel” genannt)? Wohl ein einheimisches Storchschnabelgewächs, möglicherweise das Ruprechtskraut (Geranium robertianum), wie manchmal in Internetblogs zu lesen steht? Wir werden das Rätsel wohl nicht heute Abend nicht mehr lösen, denn was Dr. Hertzka nun wirklich in seine Produkt mischte, steht nicht auf der Packung.
Genug des Verwirrspiels! Kommen wir wieder zu etwas Bekanntem – der Petersilie! Wie im Mai darf mein selbst fabrizierter Herzwein nach Hildegards Vorbild wieder probiert werden. Wir rekapitulieren noch einmal kurz – im Blog vom 14. Mai nachzulesen: Gegen Herz-, Milz- und Seitenschmerzen koche man Petersilie in Wein mit etwas Essig und viel Honig und lasse davon öfter trinken. Im hinteren Beet, über dem ein Totenkopf-Warnschild schwebt, steht eine verblühte Pflanze mit reifen Samen – in diesem Stadium hat die Gift-Pflanze des Jahres 2023 aufgrund ihres starken Apiol-Gehalts in der Küche nichts mehr zu suchen.
Wir verabschieden uns für heute mit einer Verkostung von der Walnuss. Hildegard konnte nur mit den Blättern etwas anfangen, aus denen sie einen Frischpflanzen-Presssaft gegen Würmer empfahl – eine heute bizarr anmutende Indikation. Den Nüssen traute sie nicht recht über den Weg, war vielmehr überzeugt, übermässiger Genuss …. erzeug(e) leicht Fieber, welches bei schwachen Naturen üble Folgen haben kann.
Hier geben wir Hildegard mal ausnahmsweise nicht recht, und deshalb habe ich Anfang Juli aus den von unserem Baum gefallenen unreifen Johanninüssen einen alkoholischen Auszug (40 %) angesetzt, den ich Mitte August abgefiltert und mit Zucker, einer Zimtstange und einer aufgeschlitzten Vanilleschote zu einem Sirup verkocht habe. Die Hälfte davon habe ich mit reichlich Wermut versetzt. Nach 4 Wochen in dunkler Kühle ist der junge Likör heute servierbereit – entweder gaumenfreundlich süß oder als absinthinhaltiger Magenbitter. Dieser erinnert mich lebhaft an die starken Gebräue, die abgehärtete Eifler Verwandte meines Vaters einst gewerblich fabrizierten. Mich schüttelt’s, doch Kenner loben, er sei genau richtig geraten und müsse so schmecken. Geschadet hat’s keinem, wir leben noch!
Noch ein letzter Blick auf unsere im Spätsommer-Sonnenschein liegende Naturwiese …. denn bald wird sie abgemäht und das Schnittgut abtransportiert, um nächstes Jahr eine hoffentlich noch artenreichere Magerwiese zu generieren. Für dieses Jahr ist die Gartensaison vorbei, doch auch in der kalten Jahreszeit werden wir uns zu neuen Themen bald wiedersehen.