Bei Husten: Heroin
Die Jahreszeit der Erkältungen und grippalen Infekte ist wieder da, und eine ganze Batterie an unterschiedlichsten Arzneimitteln wartet auf ihren Einsatz. Das war nicht immer so, denn gerade für Atemwegserkrankungen gab es lange Zeit so gut wie gar nichts – außer natürlich der Allzweckwaffe Opium. Die jedoch war unberechenbar in der Dosierung, man wusste nie, wieviel Wirkstoff in der Samenkapsel tatsächlich enthalten war. Erst als es dem Apotheker Friedrich Wilhelm Sertürner 1804 gelang, aus dem Opium das Alkaloid Morphin zu isolieren, hatte man dieses Problem gelöst. In der Folge wurde Morphin trotz Suchtpotenzial und erheblicher Nebenwirkungen bei zahlreichen Indikationen, u. a. auch bei Husten, verordnet.
Parallel setzte man aber die Suche nach einer weniger problematischen Substanz fort und konnte dem Opium ein weiteres Alkaloid – das Codein – abtrotzen, das 1887 auf den Markt kam. Der große Wurf in punkto Nebenwirkungsfreiheit war dies jedoch auch nicht.
Ein neuer Hoffnungsträger sollte alsbald im Bayer-Stammwerk in Elberfeld entwickelt werden: das Diacetylmorphin. Da man die Substanz selber nicht patentieren konnte (sie war im wissenschaftlichen Umfeld bereits seit 1874 bekannt), ließ sich Bayer 1898 den Markennamen „Heroin“ dafür schützen und brachte es als Schmerz- und Hustenmittel auf den Markt. Aufgrund spektakulärer erster Behandlungserfolge (so mancher Proband soll sich nach der Einnahme gar „heroisch“ gefühlt haben), versprach man sich von dem neuen Präparat ähnlich viel wie von der zeitgleich entwickelten Acetylsalicylsäure („Aspirin“). Und tatsächlich legte das Heroin einen beachtlichen Marktstart hin: immer mehr Ärzte in immer mehr Ländern verlangten nach immer größeren Mengen des Wundermittels. Zeitweise verdankte Bayer bis zu 5% der Gewinne aus Pharmazeutika dem Heroin.
Auch in der Residenzapotheke München lief das Geschäft mit dem hochwirksamen Opiat offensichtlich gut, denn man schaffte ein Standgefäß im damals top-modernen Look der Wiener Werkstätte an. Ebenso markant wie das bernsteinfarbene Glas, der achtfach facettierte Hals und der Stopfen im Brillantschliff ist die goldene Umrahmung des eingebrannten Etiketts.
Bayer lieferte Portionsgrößen zwischen 1 und 25 Gramm an die Apotheken und verkaufte so im Jahr 1907 fast eine Tonne Heroin weltweit. Ob aber das Pulver in diesem Standgefäß wirklich von Bayer stammt, das muss offen bleiben. Denn es gab auch andere Hersteller von Diacetylmorphin, und so mancher Apotheker bestellte bei der Konkurrenz und füllte das Präparat in eine mit „Heroin“ bezeichnete Flasche. Zwar verlor man dadurch das Qualitätsversprechen eines aus der Werbung wohlbekannten Markenprodukts, andererseits gewann man an Flexibilität beim Verkaufspreis. Theoretisch wäre es auch möglich, dass der damalige Residenzapotheker durchaus bei Bayer bestellte, aber sich selbst als stärkere Marke sah und daher die Bayer-Flaschen nicht im Regal neben seinen eigenen haben wollte. Dann aber hätte er wohl auch nicht den geschützten Markennamen auf die Flasche brennen lassen, sondern die neutrale Bezeichnung „Diacetylmorphin“. Wahrscheinlich haben wir es hier also mit einem Markenrechtsverstoß und somit einer „illegalen“ Flasche zu tun.
Auf der Rückseite der Flasche findet sich der handschriftliche Vermerk „103 Gr.“ – hierbei handelt es sich um das sogenannte Taragewicht, also das Gewicht der Flasche ohne Stopfen. Füllte man nun ein Pulver ein und wog die Flasche, so musste man diese 103 Gramm abziehen, um auf das Gewicht der Füllung zu kommen. Bei einem Volumen von ca. 45 ml war genug Platz in der Flasche um eine große Kundschaft zu versorgen, da die Einzeldosis nur wenige Milligramm betrug.
Erst etwa zehn Jahre nach der Markteinführung wurde allmählich die tödliche Gefahr erkannt, die vom Heroin ausgeht: es macht noch viel schneller abhängig als Morphin und der Gewöhnungseffekt ist noch stärker, so dass man schnell immer größere Mengen braucht. Dazu kommt, dass der Unterschied zwischen einer wirksamen und einer tödlichen Dosis extrem gering ist, so dass eine sichere Anwendung außerhalb von kontrollierten Laborbedingungen gar nicht möglich ist. Trotzdem tat man sich mit einem rigorosen Verbot schwer: 1910 hielt Diacetylmorphin sogar noch Einzug ins Deutsche Arnzeibuch (DAB 5) als Separandum, d. h. es war Rot auf Weiß zu etikettieren und getrennt von den übrigen Arzneimitteln aufzubewahren. Bereits 1920 verschwand es aber wieder aus den ersten Arzneibüchern (z. B. USA) und wurde in der Folge in immer mehr Ländern verboten, so dass der Absatz einbrach und Bayer 1940 die Produktion einstellte. Andere Firmen produzierten aber weiter, und illegale Labore unter Kontrolle der Mafia waren längst am Start. Erst 1971 kam es in Deutschland zu einem Verkaufsverbot; seit 2009 ist der medizinische Einsatz unter strengen Auflagen wieder erlaubt.
Die Aufkleber „Vorsicht“ und „Gift“ auf unserer Flasche sind sicherlich später hinzugekommen, denn als Gift im Sinne des Deutschen Arzneibuchs galt Heroin nie. Zur Datierung unseres Exponats wäre zu sagen, dass aufgrund der roten Schrift frühestens 1910 in Frage kommt. Da die Residenzapotheke 1919 mit dem Ende des Königreichs Bayern ihren Status als Hofapotheke verlor und an einem neuen Standort als staatliche Apotheke wieder aufgebaut wurde, könnte das Standgefäß aus dieser Anfangsausstattung stammen.
Kurze Ergänzung zur Unterscheidung “Separanda” und “Gifte” in der Apotheke: Das Deutsche Arzneibuch hatte Anlagen. Eine davon war die Tabelle B, “enthaltend die gewöhnlich Gifte genannten Arzneimittel, die unter Verschluß und sehr vorsichtig aufzubewahren sind”. Diese Substanzen (z.B. Arsen- und Quecksilberverbindungen, einige Alkaloide) gehörten in den Giftschrank und waren mit weißer Schrift auf schwarzem Grund zu etikettieren. Eine weitere Anlage des Arzneibuchs war die Tabelle C, “enthaltend diejenigen Arzneimittel, die von den übrigen getrennt und vorsichtig aufzubewahren sind”, darunter fallen u.a. auch die Opium-Zubereitungen. Diese brauchten nicht in den abschließbaren Giftschrank, mussten nur getrennt von den übrigen Arzneimitteln stehen und waren mit roter Schrift auf weißem Grund zu etikettieren. Die heutige Apothekenbetriebsordnung kennt keine “Gifte” mehr, sondern nur noch “Gefahrstoffe”.