Système Raspail

François-Vincent Raspail (1794-1878) war eine legendäre Figur im Frankreich des 19. Jahrhunderts – er stand Zeit seines politischen Lebens (ab ca. 1815) in Opposition zu sämtlichen Regimen der Grande Nation. Aus heutiger Sicht kann der Zeitgenosse von Karl Marx als einer der ersten Sozialisten gelten; aufgrund seiner Überzeugungen musste er mehrere Gefängnisstrafen absitzen, bevor er gegen Ende seines Lebens rehabilitiert wurde. Heute ist einer der großen Boulevards von Paris nach ihm benannt, ferner eine Metrostation und eine südafrikanische Pflanzengattung (Raspalia).

Er war jedoch nicht nur politischer und sozialer Revolutionär, sondern führte auch bedeutende Forschungsarbeiten auf wissenschaftlichem Gebiet durch, insbesondere in Chemie, Medizin und Biologie. Auch dafür musste er sich 1846 vor Gericht verantworten, da er ohne ärztliche Zulassung die Armen von Paris mit seiner eigenen Methode – dem Système Raspail – behandelt hatte, kam aber mit einer geringfügigen Geldstrafe davon. Viele Aspekte dieses Systems waren seiner Zeit weit voraus, beispielsweise die Betonung von Hygiene und Antisepsis (Desinfektion) – Praktiken, die gerade in den ärmeren Bevölkerungsschichten auch aus wirtschaftlichen Gründen kaum Tradition hatten. Andere Aspekte würde man heute in die Volksmedizin einordnen oder ganz verbieten – beispielsweise hielt Raspail den nicht ganz ungefährlichen Campher für eine Art Allheilmittel – kaum eine Krankheit konnte er sich denken, gegen die dieser durch Wasserdampfdestillation aus dem Holz asiatischer Kampferbäume gewonnene Stoff nicht wirksam sein solle (heute reduziert auf homöopathischen Einsatz gegen Erkältungen sowie als Antidot, wenn der Patient ein anderes homöopathisches Mittel nicht verträgt). Der heute sicherlich prominenteste Anhänger der Raspail-Methode war Vincent van Gogh, der eine Ausgabe von dessen Gesundheitshandbuch auf einem seiner Gemälde verewigte.

Welche Bedeutung Raspails Ideen im 19. Jahrhundert tatsächlich hatten, ist heute nur noch punktuell nachvollziehbar. Beispielsweise bewirbt eine „Association médicale et pharmaceutique“ im Pariser Almanach des Jahres 1856 ihre Konsultationen in drei offensichtlich gleichberechtigten medizinischen Systemen: genannt werden Allopathie, Homöopathie und Raspail.

Zwei Jahre später, also 1858, gründete Émile Raspail, einer von vier Söhnen François-Vincents, die Société Raspail, um die von seinem Vater entwickelten Medikamente auf Kampferbasis herzustellen und zu vermarkten. In der Pariser Rue du Temple 14 befand sich die Verkaufsstelle, die „Pharmacie complémentaire de la méthode Raspail“. Nach der unvermeidlichen gerichtlichen Auseinandersetzung mit dem pharmazeutischen Establishment wurde sie 1861 umbenannt in „Maison Raspail pour la droguerie“.

Ein weiterer Einschnitt kam 1870, als Èmile seine Arzneifabrik in eine Brennerei umwandelte, um eine größere Produktionskapazität für das immer beliebter werdende „Elixir Raspail“ zu schaffen. Diesen Likör hatte sein Vater bereits 1845 in einer weniger wohlschmeckenden, da ungezuckerten und kampferhaltigen Form erfunden (liqueur hygiénique non sucrée). Die neue Rezeptur sollte dem Konsumenten dennoch wie gehabt ein langes Leben garantieren und hatte ein ebensolches auch selber: die Brennerei in Arcueil produzierte bis in die 1960er Jahre, zuletzt unter der Ägide von Bols.

Vermutlich gab es die Raspail’sche Pharmaproduktion also nur ca. ein Jahrzehnt lang. Im Pariser Almanach 1870 firmierte man noch unter „Pharmacie“ (neben „Droguiste“ und „Distillerie“) mit Hinweis auf eine hauseigene Wunderheilmethode für den Typhus. 1873 fand man das Maison dann nur noch unter „Parfumeurs“. Einige andere Dienstleister geben zu diesem Zeitpunkt aber noch an, nach dem Système Raspail zu praktizieren.

Eines von Raspails großen Zielen war die Demokratisierung, wenn nicht gar Sozialisierung der Medizin. Er wollte den Patienten ins Zentrum der Macht rücken und den Arzt sogar verbeamten, damit er nicht gewinnorientiert arbeiten musste oder konnte. Passend zu diesem Anspruch der medizinischen Autonomie wurden im Maison Raspail auch nach dem Système Raspail befüllte Haus- und Reiseapotheken verkauft, von denen wir eine nun für das Museum erwerben konnten.

Tragbare Apotheke Maison Raspail, unteres Fach

Kampfer-Alhohol, „Beruhigungswasser“, Ammoniak, Likör (s. o.), Kampferessig- und -öl, Puder, verschiedene Chemikalien und Grundstoffe zur Arzneiherstellung, Kampfer-Zigaretten, galvanische Beschichtungen (Plaques Galvaniques), diverse Spritzen, Klistiere und andere Instrumente – eine wahre Fundgrube an Raspail-Medikamenten und Medizintechnik wartet darauf, genauer analysiert zu werden. Diesen Mahagonikasten des Maison Raspail (zugeklappt 46 x 18 x 18 cm) kann man auf etwa 1860 datieren, wobei er in dieser Zusammenstellung schon seit mindestens 1845 vertrieben wurde. Damals allerdings noch nicht unter der Hausmarke, sondern „wie publiziert von Monsieur F. V. Raspail“ – gemeint ist ein 139 Seiten starkes Handbuch der Familien-Medizin, in dem der komplette Inhalt aufgenommen und erklärt ist.

Tragbare Apotheke Maison Raspail, oberes Fach

In der oberen Etage finden wir das geballte Sortiment an Kampfer-Präparaten, sowie eine kleinere Dose einer Genfer Apotheke, die wohl später hineinkam – der letzte Besitzer dieses Kastens war womöglich also Schweizer. Das zerbrochene Glas mit dem berühmten Elixir Raspail (Liqueur Hygiènique) geht auf das Konto der Transportfirma The Packengers, die sich bereits zum wiederholten Male unfähig zeigten, unwiderbringliche Museumsexponate mit der gebotenen Sorgfalt zu transportieren. Leider arbeiten Auktionshäuser manchmal exklusiv mit dieser Horrorfirma zusammen, die mit exorbitanten Versandpreisen und einem mehr als gemächlichen Arbeitstempo glänzt, aber ihren eigentlichen Job nicht auf die Kette bekommt. Das war nun wirklich das letzte Mal, dass wir diesen Logistikdarstellern einen Auftrag erteilen.

Die runde Flasche ganz rechts ist nicht zugehörig, sie lag lose in der Kiste und ist höchstwahrscheinlich modern. Eigentlich stand an dieser Stelle eine weitere Vierkantflasche, die ebenfalls von den Packengers zerbrochen wurde, die aber kein Etikett trug. Die moderne Flasche darf diesen Platz belegen, bis wir vielleicht eines Tages noch einmal eine einzelne originale Raspail-Flasche bekommen. Eine genauere Beschreibung dieser wirklich seltenen Apotheke werden wir in unserem Katalog 2024 präsentieren. Der Don Quichotte des Kampfers mutet heute vielleicht wie eine exzentrische Fußnote der Pharmaziegeschichte an, war jedoch eine bedeutende historische Persönlichkeit und unbeugsam in seinem Engagement für Demokratie und soziale Gerechtigkeit.

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